Der Schweizer Regisseur Christoph Marthaler gehört mit seinen Installationen, Rundgängen, musikalisch-szenischen Projekten und Inszenierungen in Oper und Schauspiel zu den prägenden Künstlern des deutschsprachigen Theaters der 1990er Jahre. Marthaler zeigt den einsamen, den erschöpften, den gebrochenen Menschen. Der Regisseur schafft – oft mit hintergründiger Komik – die Utopie einer Gemeinschaft, gleichzeitig Schreckensbilder der Verfielfachung von Identität.
Die monographische Studie nähert sich der Ästhetik der musikalisch-szenischen Projekte Marthalers als Formen postdramatischen Theaters mit Hilfe eines genuinen Suchbegriffs: der Identität der Figur. In Marthalers Theater ist die Identität der Figur nicht endgültig festzuschreiben. Die Figur wird fragmentiert, zusehends aufgelöst, ist schließlich abwesend. Identitäten sind als Momentaufnahmen zu gewahren, fließen ineinander, verdoppeln sich oder laufen leer. Damit steht die Identität des Subjekts auf dem Prüfstand.
Schwerpunkte der Studie bilden das Verhältnis zwischen Schauspieler Darsteller und Figur im Spannungsfeld von Repräsentation und Präsenz, die Formen der Verfremdung, die Musikalisierung als stilprägendes Moment und die Auflösung der Figur. Der Zugriff auf die Figur in ihrer Entstehung durch Spiel gibt zudem vielfältige Einblicke in die Arbeitsweise des Regieteams und der Schauspielerinnen und Schauspieler. Den theoriegeschichtlichen Rahmen bildet vor allem Brechts Theorie des Epischen Theaters. Brechts Konzept des „gesellschaftlichen Gestus“ wird nutzbar gemacht, um Marthalers Theater als Form politischen Theaters zu beschreiben, das dem Zuschauer durch den besonderen ästhetischen Umgang mit Gedenken und Gedächtnis, mit Erinnerung und Geschichte neue Verantwortung in der Wahrnehmung gibt.
Erschienen im Gardez! Verlag Sankt Augustin, 2002