Winterwandeltheater 2024 des Freilandtheaters Bad Windsheim
Was sich im fränkischen Bad Windsheim fernab der Kulturmetropolen abspielt, muss man einfach gesehen haben, um es glauben zu können.
Intendant Christian Laubert und sein Team haben im Freilichtmuseum über viele Jahre hinweg ein Sommer- und inzwischen auch ein Winterwandeltheater etabliert, in dem Laien und Profis gemeinsam kreieren, immer neue Geschichten spinnen und Spielorte aufspüren. In jedem Jahr werden zwei Uraufführungen präsentiert, für die Laubert auch die Stücke schreibt und sie inszeniert, bisweilen im Team.
Das jüngste Winterwandeltheater „Feuer und Flamme“ erzählt eine Geschichte von verschmähter Liebe, übersehener Liebe, Liebesverrat, von verpassten und ergriffenen Chancen. Es ist ein Spiel von Erinnerung und Vergessen, von Verleugnung und Verdrängung, mit großer Liebe zum Detail. Der Abend nimmt uns mit auf Höfe, führt uns vorbei an dampfenden Misthaufen durch Scheunen und über Stiegenhäuser hinein in enge Stuben und Küchen.
Wir sitzen mit den halbwüchsigen Töchtern eines alleinerziehenden Vaters in der winzigen Kammer und bekommen Appetit auf das Gulasch, das die Nachbarin für die Familie gekocht hat, wir könnten einem hadernden Liebespaar Ratschläge erteilen und uns mit ihnen aufs Sofa setzen, wir hören das Brodeln der Kaffeemaschine und möchten am liebsten die Plätzchen probieren, die aus dem Backofen so köstlich duften.
Durch ihre Intensität, ihre atmosphärische Dichte, ziehen uns die Szenen mitten ins Geschehen, während die historischen Architekturen, das unwegsame Gelände, der fremde Geruch der altertümlichen Möbel und die Kleidungsstücke unserer Kindheit uns die Kluft zwischen dem Publikum und den Kunst-Figuren permanent vor Augen führen.
Und doch möchten wir in diesem Vexierspiel von Einfühlung und Distanz am liebsten auch in diesem Setting leben, mit den Figuren sprechen, so nah und geheimnisvoll sind sie. Der Schriftsteller im Renaissanceturm, umgeben von Büchern, Manuskripten, Schreibmaschine, Zigarren und Whisky. Der pensionierte Lehrer, der in der Gaststube eine Tonbandbotschaft seiner ehemaligen Kollegin anhört, der verliebte Witwer, der die Ansprache an seine Angebete übt, während er uns den Weg zur nächsten Station, zum nächsten Abenteuer, weist.
Manchmal sitzen wir im Warmen und die anderen Gäste schauen von draußen durch die Fenster herein, sehen uns und die Akteure, manchmal werden wir zu Lauschenden eines Hörspiels, während der Rest des Publikums die Szene direkt erlebt, und umgekehrt. Das Spiel mit Perspektiven und Ebenen es ist feinsinnig, wie alles an diesem Abend, feinsinnig, liebevoll und voller Poesie.
Die Darstellungskunst ausnahmslos aller Akteure ist direkt, schnörkellos und darum tief berührend. Die stillen Stars des Abends sind die Kinder. Sie stellen nicht wissentlich dar, sie sind – sie wollen nicht jemand sein, sie spielen, unverstellt, pur und perfekt.
Das kleine Mädchen im Schulzimmer, das sich die Geschichte der verstorbenen Mutter erzählt, der Junge, der mit dem Schriftsteller (vielleicht seinem Alter Ego) über Lyrik und Whisky spricht, die beiden halbwüchsigen Mädchen, die im Schneidersitz auf dem Esstisch die Frankfurter Rundschau lesen und alles in ihrer Umgebung „politisch“ sehen, besonders den dreizehnjährigen Schulkameraden, der wahrscheinlich schon jetzt bei der CSU ist, so altbacken wie er sich verhält.
Man möchte mehr davon hören, von diesem leisen Humor.
Das Mädchen mit der roten Mütze, das seine Aufmerksamkeit ganz dem Rühren von Zuckerguss schenkt, Plätzchen damit bestreicht und sie isst, während aus dem Nebenzimmer eine Szene hereinschwappt.
Stundenlang könnte man diesem Mädchen zuschauen, wie es rührt, streicht, bestreut und isst, wenige Worte spricht – so sparsam, so fesselnd.
Gegen Ende eine gekonnte monumentale Szene. Der Bauernhof brennt und die längst Verstorbenen erzählen sich die Geschichte dieser Katastrophe. Die Verwicklungen von „Feuer und Flamme“ werden aufdeckt, der Brandstifter gesteht aus dem Jenseits.
Und ganz am Schluss eine Überraschung, denn in all den großen und kleinen Dramen gab es eine heimliche Liebe, von der niemand ahnte – vielleicht wir Zuschauer. Wir kehren zurück zum Kammerspiel und zum Beginn der Geschichte, der Kreis schließt sich.
Draußen singen die Vögel, wir waten durch Matsch zu unseren Autos, beseelt von diesem ernsthaften, stillen, grandiosen Abend! Es wird Frühling und wir sehnen uns schon jetzt nach dem Sommer mit dem Freilandtheater Bad Windsheim. Bravo!