Theater lebt – Auch in der Erinnerung (Folge 20)

Nathan der Weise im Theater Ansbach

DAS RINGEN UM TOLERANZ, GLEICHHEIT, FREIHEIT, BRÜDERLICHKEIT

Der Mensch lernt nicht

Die aktuellen Ereignisse dieser Tage überrennen Lessings Spiel von religiöser Toleranz und der Forderung nach Gleichheit und Freiheit des Menschen aus dem Jahr 1779.

Die USA erleben jetzt die schwersten Unruhen seit dem Attentat auf Martin Luther King 1968. Seit Tagen kommt es nach dem brutalen Mord an dem Afroamerikaner George Floyd durch einen Polizisten zu Demonstrationen gegen Polizeigewalt, Rassismus und soziale Ungerechtigkeit. In vielen US-Metropolen gibt es Ausschreitungen und Plünderungen. Mehr als 40 Städte haben nächtliche Ausgangssperren verhängt. Die Nationalgarde ist bereits im Einsatz. Nun hat US-Präsident Donald Trump mit dem Einsatz der US-Streitkräfte gedroht.

Und ein weiteres Mal wird deutlich: NATHAN, das Stück, das 10 Jahre vor der Französischen Revolution entstand, war, ist und bleibt ein wichtiges Stück. Seine Themen sind weiterhin virulent. Der Mensch lernt nicht.

Die Welt im Monobloc

Die Findung des Bühnenbildes erfolgte in einem Prozess. Mir ist das differenzierte Spiel des Schauspielers und die genaue Erarbeitung der Sprache und die Präzision der Vorgänge sehr wichtig. Ich suchte nach einem Raum für die dynamische Entfaltung der Darstellung mit einem hohen Grad an Abstraktion und der Möglichkeit, die vielen Orte des Stückes spielerisch zu etablieren. Der Fokus sollte auf der Klarheit der Inhalte liegen, die die Figuren miteinander zu verhandeln haben. Lessing schrieb wunderbare Texte, die von Klugheit und gleichzeitig von Lebensnähe zeugen. Ich persönlich liebe diese Sprache sehr. Sie ist durchlässig und leicht und trotzdem intellektuell und raffiniert. Der NATHAN hat sehr viel Witz, was man zunächst vielleicht gar nicht vermutet. Mit Blick auf das heutige Publikum empfiehlt es sich allerdings, die Texte gut zu streichen. Man sollte zum Punkt kommen, ohne den Charakter der Sprache zu verlieren. Wir verfügen aufgrund er vielen Sinnesreize, denen wir durch Film, TV, Streams und die Sozialen Medien täglich ausgesetzt sind, nicht mehr über die Konzentration und feine Wahrnehmung, über die ein damaliges Publikum, dass noch wenig überfrachtet war, vermutlich noch herrschen konnte. Vielleicht haben Sie den Unterschied einmal während der Pandemie spüren können. Wenn Sie viel zu Hause oder im Wald waren, war ein Ausflug in eine Stadt doch ein unglaubliches Wahrnehmungserlebnis. Man nimmt Menschen, Wege, Architektur, Farben viel intensiver und detaillierter wahr als vorher. Mir erging es jedenfalls so.
Jan Halama kam am Ende des Findungsprozesses mit einer genialen Idee für das Bühnenbild, die ich sofort annahm: die Verwendung von Monobloc-Stühlen. Mit der sehr großen Anzahl dieser Stühle entstanden im Spiel der Schauspieler immer wieder neue Szenen, die man durch Abgänge und Auftritte ganz geschmeidig überlappen lassen konnte. Nathans zerstörtes Haus, Saladins Schachspiel, der Weg unter Palmen, Saladins Thron, die Kirche, in der der Tempelherr den Patriarchen trifft usw. Man konnte die Stühle werfen, schieben, auf ihnen sitzen, sie stapeln. Sie lassen durch ihre Form und weiße Farbe einen hohen Abstraktionsgrad entstehen, eröffnen aber dennoch ein weites Feld von Assoziationen. Erfunden in den frühen 70er Jahren, stehen sie mittlerweile auf der ganzen Welt. Nicht nur in Gärten und vor Imbissbuden, in der Wüste oder im Dschungel, sondern auch vor der Klagemauer in Jerusalem sind sie zu finden.
Der „Held des Monoblocs“ war in meiner Inszenierung Gerald Leiß. Er baute in seiner ersten Szene mit dem Tempelherren aus dem Stuhl-Chaos des durch Brand zerstörten Hauses des Nathan, ganz genau auf Text und Vorgänge abgestimmt und mit dem Timing der Szene in Einklang gebracht, Stuhl für Stuhl zwei lange gegenüberliegende Reihen auf, die in der Szene vielleicht einen Kreuzgang oder Platz assoziierten und danach als Saladins Palast firmierten. Er baute mit dem Vorgang des Aufbauens der Stühle auch das Vertrauen zum Tempelherren auf und teilte ihm kircheninterne Dinge mit, die den politischen Hintergrund der Stückhandlung aufblätterten. Aus einer einfachen Handlung, dem Stühleaufbauen, wurde so ein Vorgang, nämlich das konspirative Zusammentreffen zwischen Klosterbruder und Tempelherren. Das Wort „Vorgang“ verwende ich in meiner Arbeit immer mit klarem Bezug auf die Definition Bert Brechts, der eine Handlung im gesellschaftlichen Sein des Subjekts sah. (Brecht, Bertolt: Die Vorgänge hinter den Vorgängen als Vorgänge unter Menschen (1939), Werke (22/1), S. 519f.)
Neben dem „Was geschieht“, sieht man im Vorgang auch das „Wie geschieht es?“ und „Aus welchem Grund und vor welchem Hintergrund geschieht es?“

Das Gedanken-Spiel der Aufklärung

NATHAN DER WEISE ist keine tieftraurige Tragödie, sondern ein leichtes aufklärerisches Gedankenspiel, das von Humanität und Lebensbejahung getragen wird. Viele Figuren der Inszenierung wurden daher von uns mit Leichtigkeit und Augenzwinkern gesehen. Ganz anders hingegen die drastische Patriarchenszene, in der die Gefahr deutlich wird, die ständig über der Helligkeit schwebt. Als schönen Kontrast zur Rolle des Derwisch spielte Bernd Berleb den Patriarchen äußerst intrigant und kaltblütig.
Hinter der Fassade der Unbeschwertheit blitzen jedoch die eigentlichen Anliegen der Figuren hervor, die Dringlichkeit ihrer Absichten, die Brisanz ihres Tun und ihres eigentlichen Wesens. Wir arbeiteten viele Momente heraus, in denen die Figuren „ihr zweites Gesicht“ zeigten, denn jede von ihnen verfolgt ihr eigenes Ziel. Lessings Figuren sind keine eindimensionalen Ideenträger, sondern lebendige, vielschichtige Charaktere.

Die Rollen und ihre Darsteller*innen

Hartmut Scheyhing gestaltete den Nathan durch eine intellektuelle Beweglichkeit und körperliche Dynamik sehr weit entfernt vom Klischee des alten bärtigen, weisen Juden. Sein Nathan war heutig und lebensnah. Ein kluger Mensch, ein vom Schicksal gezeichneter, der aber nie seinen Optimismus und seinen Drang, für das Gute einzustehen, verlor. Ein Mensch der Menschenliebe und Toleranz, der achtsam ist und ständig aufpassen muss, dass er aufgrund seiner Religion nicht selbst unter die Räder gerät. Die christliche Gesellschafterin seiner Ziehtochter, Daja, spielte Claudia Dölker. Auch sie war keine Museumsfigur, doch als Charakterstudie angestaubter als der weltläufige Nathan. Verhärmt in ihrer christlichen Beharrlichkeit. Eine Gebeutelte auch sie, die mit ihrem Mann im Kreuzzug ins gelobte Land ziehen musste und ihn dort verlor. Claudia Dölker spielte die beinharte Christin, die ihren Schmerz in einer seltsam drahtigen Verknöcherung beherbergte. Daja erzieht einem Juden ein Christenkind und kann dies mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren. Sie will zurück in die deutsche Heimat und setzt alles auf den jungen Tempelherren, der ihm durch seine Heirat mit Nathans Ziehtochter Recha die Rückfahrt garantieren soll. So verrät sie auch Nathans Geheimnis an den Tempelherren, der sich wiederum naiv Rat beim Patriarchen sucht. Der Tempelherr, markant dargestellt von Sergej Czepuryi, groß schlank, blond, mit Gardemaß, wild, zart und verwirrt, jung und dynamisch und dennoch aus einer anderen Zeit. Nathans Tochter Recha, Ergebnis der Verbindung einer Christin mit einem Muslim, zeichnete energisch, frisch, keck, wißbegierig und sanft Anna Mariani. Der echte Saladin, alias Andreas Peer, wird von Historikern als gelehrter und gütiger Herrscher beschrieben. Er soll aber auch unerbittlich, brutal und hitzig gewesen sein. Peer zeigte diese zwei Gesichter und fügte ihm im Umgang mit seiner taktierenden, klugen und gewitzten, aber offiziell als Frau zurückgehaltenen Schwester Sittah, Sophie Weikert, noch das des Machos hinzu. Dem Geschwisterpaar zu Diensten steht der Derwisch, der als Bettelmönch eine skurrile Aufgabe hat. Er ist zuständig für die meist leeren Kassen des Sultans, die wiederum heimlich von seiner Schwester Sittah gefüllt werden. Bernd Berleb gab ihn in der Wiederaufnahme als mutigen und wahrheitsliebenden Menschen. Und schließlich Gerald Leiß, ein gutmütiger, aber bauernschlauer Klosterbruder, der jenseits der Kirchenobrigkeit ein Eigenleben führt und so manchen Knoten des Stückes löst.

In der aktuellen Situation des Shutdowns unserer Arbeit bin ich im Nachhinein sehr glücklich, dass ich am Jahresbeginn 2020 die Wiederaufnahme des NATHAN leiten und mit einer Neubesetzung des Patriarchen und des Derwisch mit Bernd Berleb nochmals sehr erfolgreich zeigen konnte. Geplant war für Mai und Juni 2020, also etwa jetzt, der Klassikerfrühling als Kombination aus NATHAN, DER ZERBROCHNE KRUG und MINNA VON BARNHELM, zweimal Lessing, einmal Kleist. Das wäre ein großartiger Abschluss für uns alle geworden. Zu den letzten Premieren kam es aber nicht mehr und auch der Klassikerfrühling musste begraben werden.

© Susanne Schulz, 4. Juni 2020

NATHAN DER WEISE von Gotthold Ephraim Lessing
Premiere am 23.02.2019, Theater Ansbach, Großes Haus
Inszenierung: Susanne Schulz
Bühne und Kostüme: Jan Hax Halama
Nathan, ein reicher Jude in Jerusalem: Hartmut Scheyhing
Recha, dessen angenommene Tochter: Anna Mariani
Sultan Saladin: Andreas Peer
Sittah, dessen Schwester: Sophie Weikert
Daja, eine Christin, im Hause des Juden als Gesellschafterin der Recha: Claudia Dölker
Ein junger Tempelherr: Sergej Czepurnyi
Ein Derwisch: Premiere: Andreas C. Meyer, Wiederaufnahme: Bernd Berleb
Der Patriarch von Jerusalem: PR: Andreas C. Meyer, WA: Bernd Berleb
Ein Klosterbruder. Gerald Leiß

Nathan der Weise im Theater Ansbach
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Jim Albright

Blog Dr. Susanne Schulz

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